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Erdogan schwärmt plötzlich wieder von Europa. En de EU buigt weer.

Erdogan schwärmt plötzlich wieder von Europa

Aus Ankara und Paris kommen Signale für eine Belebung des türkischen Beitrittsprozesses. Für beide Seiten ist ein wenig Fortschritt vorteilhaft – ohne, dass man dabei wirklich an einen Erfolg denkt.

Von Boris Kálnoky/ die Welt

In den letzten Jahren war der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mehr an der Steigerung seines Einflusses im Nahen Osten interessiert. Doch die Strategie ging nicht auf

Zwischen Europa und der Türkei blinkt es derzeit ganz gewaltig, Lichtsignale flackern zwischen beiden Seiten. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hatte noch bei seiner Wiederwahl im vergangenen Herbst Europa nur dreimal erwähnt, als rassistisch, ungerecht und ehrlos. Jetzt sagte er den EU-Botschaftern in Ankara, die Türkei halte weiterhin am Beitritt als vorrangigem Ziel fest und forsche nicht nach Alternativen. Der türkische EU-Minister Egemen Bagis geruhte kürzlich gar, sich gemeinsam mit EU-Offiziellen auf einem Foto zu zeigen, was bei türkischen Politik-Astrologen für hochgezogene Augenbrauen sorgte.

erdoganportrait

Auch gegenüber Israel herrscht plötzlich Tauwetter. Die Regierung in Jerusalem lässt türkische Hilfsgüter nach Gaza, damit dort ein Krankenhaus gebaut werden kann, damit Erdogan es besuchen kann. Im Jahr 2010 waren noch neun Türken einer “Hilfsflotte für Gaza” von israelischen Kommando-Soldaten erschossen worden, nachdem die betreffende türkische “Hilfsorganisation” sich geweigert hatte, ihre Güter über Land durch israelische Checkpoints nach Gaza zu bringen und stattdessen die israelische Seeblockade durchbrechen wollte.

Ganz nebenbei: Über die ägyptische Grenze gehen die aktuellen Transporte nicht, dabei ist man doch so eng verbündet. Aber der Führung in Kairo mag allzu starker türkischer Einfluss in Gaza nicht lieb sein. Das Tauwetter mit Israel ist wohl zudem auch ein Signal, dass die Türkei sich wieder mehr Mühe geben will, Brüssel zu gefallen. Kaum vorstellbar, dass die EU ein Land aufnimmt, dessen Führung in Sachen Israel rhetorisch mit Irans Präsident Ahmadinedschad wetteifert.

Frankreich lächelt zurück

Von europäischer Seite lächelt man zurück. Frankreich will eines der mehreren bislang von Paris blockierten Kapitel der Beitrittsverhandlungen (das Kapitel zur Regionalpolitik) nun doch öffnen. Grund der bisherigen Blockade war die Weigerung der Türkei, das EU-Mitglied Südzypern anzuerkennen.

Was ist da los? Kommt nun doch der türkische EU-Beitritt? Von Ankara aus gesehen jedenfalls ist die EU-Perspektive wieder wichtiger geworden, nachdem die türkische Politik der Hinwendung zum mittleren Osten gescheitert ist.

Da hatte es nämlich unlängst Träume von einer gemeinsamen Wirtschafts- und Wohlstandszone gegeben. Tatsächlich war der Handel mit den östlichen Nachbarländern stark gestiegen, die Visumpflicht für eine ganze Reihe von Ländern wurde aufgehoben. Erdogan sprach auf Konferenzen von der glänzenden, geradezu planetarischen Zukunft der muslimischen Welt, wenn sie sich nur vereine, selbstverständlich unter dem wohlwollend väterlichen Blick der Türkei. Dann aber kam der arabische Frühling. Wirtschaftlich brachen Libyen, Ägypten und Syrien zusammen, in Tunesien sieht es derzeit auch nicht rosig aus.

Türkischer Einfluss im Nahen Osten bröckelt

Nicht einmal im Nachbarland Syrien reicht der türkische Einfluss aus, eine neue, tragfähige und freundlich gesinnte Ordnung zu schaffen. Und machtpolitisch meldete dann auch noch Ägyptens neuer, halb-demokratisch legitimierter Präsident Mohamed Mursi Führungsansprüche an, die mit denen Erdogans wetteifern – so wie der eine gerne Sultan wäre, wäre der andere gern Pharao.

Jedenfalls stieß die vom türkischen Außenminister Ahmet Davutoglu ausdrücklich vorgegebene Marschlinie, den globalen Einfluss der Türkei zu maximieren, im Osten plötzlich auf unerwartete Grenzen. Eine Türkei, die im zusammenbrechenden Nahen Osten vergeblich um Einfluss ringt und dafür die EU vernachlässigt, ist aber kein Land, dessen globaler Einfluss wächst.

Und so rechnet es sich plötzlich wieder, der EU schöne Augen zu machen. Ein sogenannte “viertes Reformpaket” soll nun türkische Gesetze so ändern, dass sie nicht mehr massenhaft Klagen der Opfer türkischer Willkürjustiz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte produzieren.

Frankreich will von eigenen Problemen ablenken

Auch für Frankreich, aber auch für Europa mag es zumindest als Ablenkung von eigenen Problemen Sinn machen, wenn wieder Bewegung in den Beitrittsprozess kommt: Gerade erst quält sich die Gemeinschaft aus den schlimmsten Wirrungen der Finanzkrise.

Frankreichs Wirtschaft darbt unter Präsident François Hollande. Sich wieder mit der Türkei zu beschäftigen signalisiert, dass man noch handlungsfähig ist und nicht nur ums politische Überleben ringt.

Ein wenig Bewegung nützt allen

Das heißt nicht, dass der EU-Beitritt in Ankara oder in der EU bereits erwünscht wird. Die Türkei will derzeit nicht soviel Souveränität aufgeben, wie es ein Beitritt erfordern würde. Und sicher wäre ein türkischer Beitritt auch für Europa derzeit noch eine bedenkliche Herausforderung. Aber ein wenig Bewegung nützt allen.

Das grundlegende Paradox ist dabei: Keine Seite wird den Beitrittsprozess jemals freiwillig aufkündigen, obwohl derzeit keine Seite den Beitritt wirklich will. Um aber nicht völlig absurd zu wirken, muss dann und wann ein wenig Fortschritt sein.

Und das bedeutet, dass man sich, einen halbherziger Schritt nach dem anderen, mit der Zeit auf ein Finale zubewegt, das eine interessante Eigendynamik entwickeln kann.

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